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Die Stiefkinder

Um mehr Geld aus Brüssel zu bekommen, sollten sich Sozial- und Geisteswissenschaftler fachübergreifend auf Ausschreibungen des Forschungsprogramms Horizont bewerben können. Doch in der Praxis hat das selten geklappt. Die Brüsseler Kommission gelobt nun Besserung.

Solidarität ist wichtig, gerade in Zeiten wie diesen, in denen der Zuzug von Flüchtlingen die gesamte europäische Politik herausfordert. Deswegen scheint es nur folgerichtig, dass der Soziologieprofessor Dr. Christian Lahusen von der Universität Siegen knapp 2,5 Millionen Euro aus Brüssel bekommt, um zu untersuchen, wie es um die Solidarität in Europa bestellt ist und von welchen Faktoren sie beeinflusst wird. TransSol heißt das Projekt, für das Lahusen das Geld aus dem Forschungsrahmenprogramm Horizont 2020 eingeworben hat. „Das ist schon eine besondere Hausnummer“, sagt Lahusen. Er freue sich, dass die Arbeit, die er in den EU­Antrag gesteckt habe, sich gelohnt habe.

Doch so sinnvoll und naheliegend der Zuschlag an Lahusen auch sein mag: Selbstverständlich ist sein Erfolg nicht. Lahusen ist ein Beispiel für eine Ausnahme; eine solche ist es nämlich, wenn ein Sozialwissenschaftler Geld aus den Brüsseler Fördertöpfen bekommt. Die Geistes­ und Sozialwissenschaftler sind weit abgeschlagen beim Rennen um die Gelder aus der Forschungsförderung der EU.

Nur wenige Anträge werden bewilligt

Dabei sollte der Ansatz von Horizont 2020 eigentlich genau diese Benachteiligung beseitigen, indem die Geistes­ und Sozialwissenschaften nicht länger getrennt von anderen Disziplinen in einer eigenen Förderlinie bedacht werden, sondern Zugriff auf alle Fördertöpfe haben. Sie sollen sich an naturwissenschaftlichen oder technischen Forschungsprojekten beteiligen und diese um geistes­ oder sozialwissenschaftliche Aspekte bereichern, lautet die Strategie der Kommission.

Dieser Ansatz ist bislang allerdings gescheitert, das hat jetzt die Kommission selbst eingestehen müssen. Im vergangenen Jahr ließ sie untersuchen, was die Geistes­ und Sozialwissenschaftler 2014 von der Förderung in den beiden großen Horizont­Schwerpunktthemen „Führende Rolle der Industrie“ und „Gesellschaftliche Herausforderungen“ abbekamen. Das im Herbst veröffentlichte Ergebnis war enttäuschend: Lediglich sechs Prozent der Mittel, die die Kommission 2014 in den beiden Schwerpunkten ausschüttete, gingen an Institutionen aus den Sozial­ und Geisteswissenschaften. Und bei diesen sechs Prozent ist noch nicht berücksichtigt, dass die Kommission nach Protesten aus der Wissenschaft doch noch ein gesondertes Förderprogramm für die Sozial­ und Geisteswissenschaften schuf. Dabei handelt es sich um einen von sieben Bereichen, in die der Horizont­Schwerpunkt „Gesellschaftliche Herausforderungen“ untergliedert ist: Die sechste Herausforderung „Europa in einer sich verändernden Welt“ ist speziell auf die Geistes­ und Sozialwissenschaften zugeschnitten.

Rechne man die Mittel heraus, die in dieser sechsten Herausforderung vergeben wurden, so bekämen die Sozial­ und Geisteswissenschaften in Horizont 2020 sogar nur noch 4 Prozent – 166 Millionen Euro – ab, sagt Angela Schindler­Daniels, die Net4society koordiniert, das europäische Netzwerk der Nationalen Kontaktstellen für Sozial­, Wirtschafts­ und Geisteswissenschaften.

Befürchtungen bewahrheitet

Damit scheint genau jene „Marginalisierung der Sozial­ und Geisteswissenschaften“ eingetreten zu sein, vor der Prof. Dr. Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), bereits vor drei Jahren gewarnt hat. Auch Schindler­Daniels kritisiert: „Eine maßgebliche Wissenschaftscommunity wird zunehmend abgekoppelt vom europäischen Forschungsförderwesen.“ Im Kontext eines Forschungsförderprogramms, das den Namen „Gesellschaftliche Herausforderung“ trage, erwarte man an sich eine signifikantere Beteiligung der Sozial­ und Geisteswissenschaften, sagt sie. Davon jedoch ist die EU­Forschungsförderung weit entfernt.

In der dritten Herausforderung („Sichere, saubere und effiziente Energie“) und in der vierten Herausforderung („Intelligenter, umweltfreundlicher und integrierter Verkehr“) warben Politologen, Soziologen & Co. jeweils nur vier Prozent der Fördermittel ein. Etwas, aber nicht wesentlich besser sah es in anderen Förderlinien aus: In der siebten Herausforderung „Sichere Gesellschaften“ gingen an Sozial­ und Geisteswissenschaftler 14 Prozent des Budgets, in der zweiten Herausforderung („Ernährungs­ und Lebensmittelsicherheiten, nachhaltige Landwirtschaft“) waren es zehn Prozent.

Mentalitätswandel gefordert

Mitgeschrieben an der Studie der Kommission hat als deutsche Expertin die Soziologin Dr. Julia Stamm, die bis Ende 2015 in der Generaldirektion Forschung und Innovation der EU­Kommission arbeitete. Sie fordert einen „Mentalitätswandel hin zu mehr Interdisziplinarität“ – und zwar sowohl bei den Forschern als auch bei den Forschungsförderern. „Wir brauchen die Forschung der Sozial­ und Geisteswissenschaften auch in jenen Bereichen, in denen etwa Ingenieurwissenschaften oder Informationstechnik den Vorrang haben“, sagt Stamm. Für die Forscher bedeute das: „Es geht nicht darum, dass die Sozial­ und Geisteswissenschaften in jeder Ausschreibung dabei sind, aber dass sie sich dort, wo ihre Beteiligung essenziell ist, dann auch wirklich an der Ausschreibung und am Konsortium beteiligen.“

Wissenschaftler haben eine Bringschuld ...

Prof. Dr. Günter Stock, der als Präsident der All European Academies (Allea) 58 europäischen Wissenschaftsakademien vorsteht, sieht die Geisteswissenschaftler in einer „Bringschuld“. Sie müssten lernen, bei bestimmten Fragestellungen mehr anzubieten, sagt Stock und hofft, dass der Bericht für die Geisteswissenschaften ein „Weckruf“ ist. Scheinbar ist so ein Ruf dringend notwendig, denn die Kommission hat zwar Ausschreibungen, die für Geistes­ und Sozialwissenschaftler infrage kommen, extra gekennzeichnet – „geflaggt“, wie es im EU­Jargon heißt. Doch haben sich 2014 an 28 Prozent dieser geflaggten Ausschreibungen die angesprochenen Soziologen, Linguisten oder Wirtschaftswissenschaftler gar nicht beteiligt.

Interesse ist reichlich vorhanden

Daraus auf mangelndes Interesse zu schließen, wäre jedoch voreilig. Denn dass sich die Geistes­ und Sozialwissenschaftler sehr wohl für die EU­Förderung interessieren, belegen die sehr niedrigen Bewilligungsquoten für Projektanträge der speziellen sechsten Förderlinie. Hier bewerben sich Wissenschaftler so zahlreich, dass laut Schindler­Daniels nur 4,6 Prozent der Anträge stattgegeben wurde. Bei einzelnen Antragsthemen seien es sogar nur 1,5 Prozent gewesen. „Die sechste Herausforderung ist so deutlich formuliert, dass sich viele Sozial­ und Geisteswissenschaftler eingeladen fühlen, Anträge einzureichen“, sagt Günter Stock dazu.

Jenseits der sechsten Herausforderung wird es aber mühsam, bestätigt auch der erfolgreiche Antragsteller Lahusen. Er habe für sich in den anderen Herausforderungen keinen sozialwissenschaftlich interessanten Forschungsansatz gesehen. „Viele der Calls haben einen engen Anwendungsbezug oder gehen zu stark Richtung Politikberatung“, sagt er. Er verstehe sich aber, genauso wie viele seiner Kollegen, eher als Grundlagenforscher. Zu dieser Haltung ermutigt auch Schindler­Daniels: „Viele Geistes­ und Sozialwissenschaftler werden häufig angefragt für Beratungs­ und Kommunikationsstrategien, doch in dieser Rolle sehen sie sich natürlich nicht“, sagt sie.

„... doch sie müssen sich auch gewollt fühlen.“

Die EU­Kommission, meint Stamm, müsse ihrerseits vermitteln, dass sie dringend auf die Forscherexpertise der Sozial­ und Geisteswissenschaften angewiesen sei. „In diesen Bereichen müssen sie sich auch gewollt fühlen“, sagt Stamm. Das Verständnis dafür habe in den Ausschreibungen teilweise noch gefehlt; die Rolle, die sie den Geistes­ und Sozialwissenschaftlern zuwiesen, werde diesen nicht gerecht. Denn, meint Stamm, Geistes­ und Sozialwissenschaftler könnten mehr zu einem Projekt beitragen als die Antwort auf die Frage, wie man eine neue Technologie auf den Markt bringe oder sie der Politik vermittele.

Einen Business­Plan aufzustellen, sei keine Aufgabe für einen Forscher, sagt auch Schindler­Daniels. „Die EU­Kommission wollte den Geistes­ und Sozialwissenschaften Gelegenheit geben, sich an Horizont 2020 zu beteiligen, was grundsätzlich begrüßenswert ist, hat das aber dann in den Ausschreibungen nicht präzise genug formuliert“, kritisiert sie. Allea­Präsident Stock fordert deshalb Nachbesserungen. „Man könnte bei der Vorbereitung von Calls eine gezielte Initiative einbauen mit dem Ziel, Geistes­ und Sozialwissenschaftler noch einmal konkret anzusprechen“, schlägt er vor.
Für die aktuellen Ausschreibungen des Arbeitsprogramms 2016/17 hat Brüssel selbstkritisch Besserung gelobt. EU­Forschungskommissar Carlos Moedas erklärte auf einer Tagung Ende Oktober in Brüssel, Sozial­ und Geisteswissenschaften könnten der Schlüssel sein, gesellschaftliche Herausforderungen zu lösen, und die EU­Kommission wolle die Unterstützung dieser Forschung in jeder möglichen Hinsicht fortsetzen.

Es hapert an der Zusammenarbeit

Künftig, so Julia Stamm, wolle die Kommission nur noch solche Themen „flaggen“, die ohne Sozial­ und Geisteswissenschaftler nicht adäquat behandelt werden können: „Nur dann kann man davon ausgehen, dass Forscher auch einen Bedarf sehen, ihre Forschung einzubringen“, erläutert Stamm.
Doch unpräzise Ausschreibungen sind nicht das einzige Manko; es hapert auch an der fachübergreifenden Zusammenarbeit. „Die Communities für interdisziplinäre Kooperationsverbünde müssen sich erst mal finden“, sagt Schindler­Daniels. Das dauere. Allea­Präsident Stock plädiert für Geduld. „Zwar lässt sich über das Embedding nicht alles auflösen, aber der Ansatz war richtig, denn es haben sich eine Reihe von Verbünden getroffen, die gemeinsam erfolgreich einen Antrag formuliert haben“, sagt er.

„Kooperation braucht ihre Zeit“, bestätigt Sozialwissenschaftler Lahusen. Einer der Gründe, warum sein Antrag Erfolg hatte, war, dass er auf ein Netzwerk zurückgreifen konnte – ein harter Kern von fünf bis acht europäischen Forschern aus Soziologie, Politik­, Rechts­ und Medienwissenschaften, der je nach Call ergänzt werden kann. Diese Kontakte pflegt Lahusen seit vielen Jahren. „Es ist schon herausfordernd, innerhalb der Sozial­ und Geisteswissenschaften zusammenzuarbeiten, aber mit Kollegen aus den Natur­ und Ingenieurwissenschaften dürfte es dann noch anspruchsvoller sein“, sagt er. Das Problem sei oft, eine gemeinsame Sprache zu finden, gerade unter dem Zeitdruck, einen Projektantrag zu schreiben. „Und selbst wenn man meint, man habe diese Sprache gefunden, wundert man sich bei der Umsetzung immer wieder, wie Unterschiedliches darunter impliziert wird“, sagt Lahusen. Schnelle Erfolge solle deshalb niemand nach den ersten Jahren von Horizont 2020 erwarten. „Für mehr Beteiligung der Sozial­ und Geisteswissenschaften ist ein langer Atem notwendig“, so Lahusen.

Dokumente und Studien zu Horizont 2020

Dokumente und Studien zu Horizont 2020

Die EU-Kommission hat untersucht, wie Sozial- und Geisteswissenschaften im Jahr 2014 in den Horizont-Schwerpunkten „Gesellschaftliche Herausforderungen“ und „Führende Rolle der Industrie“ integriert waren.
Im Internet: http://tinyurl.com/hdtlhh3

Das Bundesforschungsministerium hat eine Broschüre über Horizont 2020 herausgegeben.
Im Internet: www.bmbf.de/pub/horizont_2020_im_blick.pdf

Die EU-Kommission hat das Arbeitsprogramm von Horizont 2020 für die Jahre 2016 und 2017 veröffentlicht.
Im Internet: http://tinyurl.com/o3ncrgw

Die Nationale Kontaktstelle hat die Förderung der Europäischen Union für Sozial-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaftler untersucht.
Im Internet: www.nks-swg.de/media/content/Kompass_Final_Online_Nov2014.pdf

Die aktuellen Ausschreibungen

Die aktuellen Ausschreibungen

Sechste Gesellschaftliche Herausforderung Im Oktober hat die EU-Kommission für das Arbeitsprogramm 2016/2017 die Aufrufe zu 39 Antragsthemen, so- genannten Topics, veröffentlicht. Die Einreichungsfrist läuft bis zum 4. Februar 2016. Weitere Fristen sind: 16. April 2016, 24. Mai 2016 und 2. Februar 2017.
Die Antragsthemen sind im Internet zu finden unter: http://tinyurl.com/grkutyq

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