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Das Leben, ein Baukasten

In der Synthetischen Biologie kommen Lebenswissenschaften und Ingenieurskunst zusammen. Forscher bauen Zellen nach, programmieren sie um, kreieren Leben. Wer denkt da nicht an Frankenstein? Umso erstaunlicher ist, wie stoisch Politik und Öffentlichkeit die Revolution im Labor zur Kenntnis nehmen.

Wer es putzig mag, vergesse Mary Shelleys Frankenstein und wähle das Gör: Hasenzähne, Sommersprossen, rote Zöpfe. „Zwei mal drei macht vier, widdewiddewitt und drei macht neune, ich mach‘ mir die Welt widdewidde wie sie mir gefällt“, ließ Astrid Lindgren ihre renitente Pippi vor fast 50 Jahren trällern. Der Ohrwurm wurde in Deutschland mit der gleichnamigen Fernsehserie populär. „Hej, Pippi Langstrumpf“ war die Kinderhymne der 70er-Jahre. Nun hat der Freigeist aus der Villa Kunterbunt mit der Synthetischen Biologie und ihren Protagonisten natürlich so wenig gemein wie der finstere Dr. Frankenstein. Doch am zweiten roten Zopf lässt sich noch eine hübsche Verbindung zur beliebten Pippi herbeiziehen.

Die Welt gerät aus den Angeln ...

In dem Jahr, in dem Astrid Lindgrens Weltbestseller fürs Fernsehen verfilmt wurde, kamen Deutschlands führende Wissenschaftlerinnen der Synthetischen Biologie, Prof. Dr. Petra Schwille und Prof. Dr. Emanuelle Charpentier, zur Welt. Beide sind 1968 geboren, Pippi könnte die Heldin ihrer Kindheit sein. Und sie könnten sie heute vielleicht sogar übertrumpfen. Pippi hob die Welt schließlich nicht wirklich aus den Angeln. Die Synthetische Biologie aber hat als große Schwester der roten und grünen Gentechnik sehr wohl das Zeug dazu. Vielleicht hat sie es auch schon getan. So genau lässt sich das heute nämlich noch gar nicht abschätzen.

Petra Schwille, Leibniz-Preisträgerin, koordiniert in der Max-Planck-Gesellschaft den Forschungsverbund „MaxSynBio“, in dem sich eine Gruppe von neun Max-Planck-Instituten zusammengetan hat, um künstliche Zellen zu konstruieren. Emanuelle Charpentier führt vom Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung und der Medizinischen Hochschule Hannover aus ihr internationales Forscherteam und räumt derzeit einen renommierten Wissenschaftspreis nach dem nächsten ab. Vor rund drei Jahren entwickelte Charpentier zusammen mit ihrer US-amerikanischen Kollegin Prof. Dr. Jennifer Doudna, Jahrgang 1964, das sogenannte Crispr-Cas9-Verfahren, mit dem sich Erbgut so gezielt und einfach verändern lässt wie nie zuvor.

Experten raunen vom Nobelpreis

Die Methode gilt als Meilenstein, und nicht wenige raunen vom Nobelpreis. In ihrem Lauf aufgehalten werden Charpentier und Doudna derzeit lediglich von Feng Zhang. Mit dem 1981 in China geborenen Forscher des renommierten Massachusetts Institute of Technology liegen die zwei Frauen in einem  zähen Patentstreit. Die Fronten sind verhärtet, die Lage so verzwickt wie immer, wenn es um Geld geht. Um viel Geld. So viel, dass manchen Forschenden im Feld der Synthetischen Biologie der Kopf eben nicht nur vor lauter Erkenntnistrieb schwindeln mag.

Doudna, Charpentier, Schwille. Diese drei Frauen gehören nun also international zur Vorhut einer Wissenschaftlerzunft, die die Lebenswissenschaften in eine Ingenieurskunst verwandelt. Wie viele Forscher in welchen Laboren der Welt genau mit welchem Ziel am kleinsten Nenner des Lebens, dem Gencode der Zelle, drehen, schneiden und schrauben, lässt sich nicht sagen. Aussagekräftige Statistiken fehlen so schmerzlich wie eine umfassende Begleitforschung. Der Mangel ist nicht nur in Staaten wie China zu erkennen, wo Forscher in diesem Frühjahr zum Schrecken der internationalen Wissenschaftsszene kundtaten, die Crispr-Cas9-Methode an menschlichen embryonalen Stammzellen angewendet zu haben. Auch Deutschland kann in Punkto Begleitforschung nicht wirklich glänzen.

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Die Synthetische Biologie wird in Deutschland allenfalls flüchtig betrachtet. Genauer schaut keiner hin, weder die Politik noch die Zivilgesellschaft. Das ist umso erstaunlicher, als dieses Forschungsgebiet genau den Stoff bietet, aus dem Wissenschaftsdebatten des Kalibers „Stammzellforschung und Klonverbot“ gemacht werden.

Darf Wissenschaft alles, was sie kann? Das ist die wiederkehrende Schlüsselfrage von Nationen, die sich als Wissensgesellschaft begreifen möchten. Sie zu beantworten, ist anstrengend und kann dauern. Über mehrere Jahre dauerte der Prozess beispielsweise in Großbritannien, doch seit Juli 2012 können sich britische Wissenschaftler in ihrem Tun auf die nationale Forschungsstrategie Synthetische Biologie stützen. Ein Vorteil, nicht nur für Politik und Gesellschaft, sondern auch und gerade für die Wissenschaft

„Wir in Deutschland halten unsere Debattenkultur für gut ausgeprägt, tatsächlich sind andere Nationen weiter und gehen deutlich strategischer vor“, sagt der stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Wolf-Michael Catenhusen. Von 1998 bis 2005 war der SPD-Politiker Staatssekretär im Bundesforschungsministerium und organisierte mit der damaligen Hausherrin Edelgard Bulmahn (SPD) in der Funktion nicht nur eine Wissenschaftsdebatte. Vor dem Hintergrund ist er sich sicher: „Gesamtgesellschaftliche Grundsatzdebatten müssen politisch von zentraler Stelle angestoßen und unterstützt werden. Sonst wird das nichts.“

Dass Catenhusens Diagnose so falsch wohl nicht sein kann, die übergreifende Debatte zur Synthetischen Biologie also zentral von der Bundesregierung und eben nicht aus der Wissenschaft heraus organisiert werden muss, ist so einleuchtend wie unstrittig. Den Forschungsorganisationen gelingt das nicht, wie die bisherigen Versuche der Wissenschaft zum Agenda-Setting zeigen. Sie sind allesamt gescheitert, der große Diskurs jedenfalls blieb aus. Doch vergebens ist die Mühe nicht gewesen, die die Wissenschaft in den vergangenen Jahren aufbrachte, um das Thema Synthetische Biologie zu setzen und öffentlich zu diskutieren

Als die Nationale Akademie Leopoldina und die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften im Frühjahr zusammen mit der Schering-Stiftung das öffentliche Symposium „Evolution in Menschenhand?“ in Berlin organisierten, kam am Ende zwar nur ein Fachpublikum zusammen. Doch die Debatten auf dem Podium und im Plenum signalisierten: Die Wissenschaft ist mehr als bereit zur Grundsatzdebatte – und sie hat Erklärungsstrategien. „Wir spielen nicht Gott, wir wollen nur verstehen“, betonte Petra Schwille Mitte März bei eben jenem Symposium im Leibniz-Saal der Berlin-Brandenburgischen Akademie am Gendarmenmarkt.

Dossiers, die niemand wirklich lesen will

Informations- und Grundsatzpapiere gibt es jede Menge. Sie warten nur darauf, im Internet abgerufen zu werden. Von den Akademien über die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft bis hin zum Bundesforschungsministerium: Sie alle haben Dossiers zur Synthetischen Biologie auf ihren Webseiten eingerichtet, stehen für Anfragen bereit.

... und keiner nimmt Notiz davon

Allein es fehlt ein Gegenüber, das sich dafür interessierte. Die großen Medien lassen das Thema fast schon beharrlich liegen. Schon 2011 kam der Berliner Medienwissenschaftler Dr. Markus Lemkuhl nach der Analyse von rund 23 Pressetiteln, die er von 2006 an auf Beiträge zur Synthetischen Biologie hin untersucht hatte, zu dem Schluss: „Es lassen sich keine Phasen (...) erkennen, in denen die synthetische Biologie die fokussierte Aufmerksamkeit des Journalismus geweckt hätte. (...) Wesentlich für die Erklärung dieses Mangels dürfte sein, dass die Synthetische Biologie bisher kein politisches Thema ist, was wiederum in Beziehung zu setzen ist mit den wissenschaftlichen Resultaten, die dieses Forschungsfeld bisher hervorgebracht hat.“

Hinzu kommt Lehmkuhl zufolge ein Weiteres: „Die Synthetische Biologie erscheint in der Öffentlichkeit als ein aussichtsreiches wissenschaftliches Betätigungsfeld, dessen gesellschaftliche Relevanz unklar ist. Sowohl bezogen auf den zu erwartenden Nutzen als auch bezogen auf zu befürchtende Risiken sind die Stellungnahmen eher vage und von einer großen Allgemeinheit gekennzeichnet.“

Zu einem ähnlichen Ergebnis kam das Institut für Demoskopie Allensbach dieses Jahr in einer Studie. Im Auftrag der Leopoldina hatten die Meinungsforscher mehr als 11.000 Bürgerinnen und Bürger über 16 Jahren befragt und sie unter anderem gebeten, ihren eigenen Wissensstand einzuschätzen. Lediglich zwei Prozent gaben an, sich bei der Synthetischen Biologie gut auszukennen. Zugleich bewerteten ganze 60 Prozent schon den bloßen Begriff als unsympathisch:

Zauberlehrling der Moderne

Die Skepsis und das Unbehagen, auf das die Synthetische Biologie und ihre Protagonisten in der Zivilgesellschaft stoßen, ist groß, und dem wird sich mit bloßer Verheißungsrhetorik nicht begegnen lassen. „Wissenschaftler müssen informieren, sich artikulieren – und nicht manipulieren“, fordert Leopoldina-Präsident Prof. Dr. Jörg Hacker.

Was sich so leicht anhört, ist ziemlich schwer. So stehen Forschende vor einer Zerreißprobe, der sie nach Einschätzung des Tübinger Moralphilosophen Prof. Dr. Otfried Höffe nicht entrinnen können. In seinem jüngsten Buch „Kritik der Freiheit – Das Grundproblem der Moderne“ attestiert Höffe der anwendungsfähigen Wissenschaft eine „strukturelle Selbstüberschätzung“, die er folgendermaßen beschreibt: „Man erhebt (...) einen humanitären Anspruch, den die Wissenschaft rein für sich gesehen nicht einlöst. In einem sehr grundsätzlichen Sinn kann sie der Rolle des Zauberlehrlings nie entkommen. Selbst wenn ihre Erforschung der Naturkräfte humanitär motiviert ist, wird nämlich die einmal erreichte Erkenntnis unabhängig von der Antriebskraft existieren, womit sie ihrer Macht und Kontrolle entzogen ist.“

So sind Wissenschaftler im Dilemma letztlich auf sich gestellt. Dieses Dilemma erleben Forschende im Gebiet der Synthetischen Biologie besonders schnell. Der Mikrobiologe Dr. Tobias Erb beispielsweise will mit seinem Team am Marburger Max-Planck-Institut für Terrestrische Mikrobiologie mit Hilfe der Synthetischen Biologie die globale Erwärmung bekämpfen. Der Plan: Hocheffiziente Katalysatoren und synthetische Zell-Module sollen entwickelt werden, um Kohlendioxid in nachhaltige Produkte umzuwandeln. „Stellen Sie sich vor, die Industrieabgase könnten in nutzbare Materie verwandelt werden. Das würden Sie als gut empfinden“, beschreibt Erb das Fernziel seiner Forschung, „andererseits könnte man mit der gleichen Technik dafür sorgen, dass Pflanzen fünfmal so schnell wachsen. Das würden Sie für gefährlich  halten, richtig?“

Das kleine Beispiel zeigt: Es gibt kein Schwarz oder Weiß. In der Synthetischen Biologie ist vieles grau. Weiterforschen oder nicht? Die Frage lässt sich im Grundsatz nicht beantworten. Es zu versuchen, davor warnen Experten der Technikfolgenabschätzung wie Prof. Dr. Armin Grunwald. Der Karlsruher Technikphilosoph leitet das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag und plädiert für ein Verhalten im Sinne des gesunden Menschenverstands: „Wenn Nebel aufkommt, dann fährt man langsam auf Sicht. Das sollte auch die Synthetische Biologie tun.“

Doch genau das ist in der auf Leistung und Wettbewerb getrimmten Wissenschaftswelt schwer vorstellbar. Forscher, die nach Jahren oder Jahrzehnten mühevollster Kleinarbeit und ungezählten Rückschlägen endlich glücklich ihr Ziel vor Augen haben, sollen auf die Bremse treten? Das wäre ziemlich viel verlangt und setzte klare Sicht voraus: „Wir wissen häufig noch nicht einmal, worin die Chancen und die Risiken bestehen könnten“, sagt Armin Grunwald.

Viele Worte, tausendfach gewogen

Seriöse Wissenschaftler drücken sich im Kontext der Synthetischen Biologie entsprechend vorsichtig aus. Sie sprechen von „vermutetem Nutzen“ und „möglichen Risiken“. Ob Leopoldina-Präsident Jörg Hacker, Petra Schwille, Emanuelle Charpentier oder Tobias Erb. Sie alle wählen ihre Worte mit Bedacht. Verheißungsrhetorik lässt sich bei ihnen nicht entdecken. So wohltuend das sein mag in einer bereits laufenden Grundsatzdebatte – der Auftakt wird ohne nachhaltigen Paukenschlag wohl kaum gelingen. Nehmen wir also vielleicht doch den Frankenstein. Der haut einfach rein.

Die Bedeutung

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Ausgewählte Studien zum Potenzial der Synthetischen Biologie

Die Bedenken

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Ausgewählte Analysen zu ethischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Implikationen der Synthetischen Biologie

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