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Todeskuss mit Moratorium

Sie ist Zentrum russischer Grundlagenforschung: die Akademie der Wissenschaften. Staatspräsident Putin setzte die Brechstange an: Im Januar wird die Akademie ihr Vermögen los sein. Bestandsaufnahme einer Brachialreform.

Es war ein historischer Tag in der Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften: Am 27. März beschloss die Vollversammlung der ehrenwerten Wissenschaftsgesellschaft, sich selbst zu entmachten. Sie stimmte mit großer Mehrheit für eine neue Satzung, die siebte seit der Akademiegründung 1724. Die Satzung ist verbunden mit der „radikalsten, schwersten und schmerzhaftesten Reform in 300 Jahren“, wie es Akademie-Präsident Prof. Dr. Wladimir Fortow ausdrückte. Die Akademie büßt die Oberhoheit über ihre mehr als 500 Unterorganisationen und Institute, über Grundbesitz und Immobilien ein.

„Alles liegt noch vor uns!“

Der bislang machtvolle Elitekreis der russischen Wissenschaft verwandelt sich in einen Expertenklub, der die allgemeine Entwicklung der Wissenschaft im Land begutachten und Ratschläge erteilen darf. Mehr nicht. Während manche Akademiemitglieder sich auf der Vollversammlung an Durchhalteparolen klammerten („Alles liegt noch vor uns!“), wandten sich andere bald dem Buffet mit Cognac und Butterbroten zu. Sie verstanden, dass der Reformprozess, den die Regierung im Juni vergangenen Jahres angestoßen hatte, nicht mehr aufzuhalten ist. Wo er enden wird, weiß keiner.

Der Akademie-Umbau ist Kernstück einer beispiellosen Reform der russischen Hochschul- und Wissenschaftslandschaft. Manche sehen sie als bittere Pille zur Heilung nach 20 Jahren Stillstand an, andere als Todeskuss: Die Akademie der Wissenschaften verliert nicht nur Besitz und Einfluss an eine neue föderale Agentur (FANO), sie wird auch mit der Akademie für Medizin und der Akademie für Agrarwissenschaft verschmolzen. Die Grundlagenforschung finanziert sich künftig nicht mehr durch feste Haushaltszuschüsse, sondern über Stipendien, um die sich Forscher bei zwei Staatsstiftungen bewerben müssen. Zudem sollen 400 private und staatliche Hochschulen geschlossen werden.

Die Ziele der Reform sind ehrgeizig und klingen, in Zahlen gegossen, wie aus früheren Fünfjahresplänen: Im Jahr 2020 sollen mindestens fünf russische Universitäten unter die global 100 besten Universitäten aufgerückt sein. Derzeit führt das QS World University Ranking gerade zwei russische Universitäten, die Staatsuniversitäten in Moskau und Sankt Petersburg, unter den ersten 300. Der Anteil junger wissenschaftlicher Mitarbeiter bis zum Alter von 39 Jahren soll bis 2018 von knapp 33 Prozent auf 41,5 Prozent wachsen. Im selben Zeitraum sieht die Reform einen Anstieg der wissenschaftlichen Veröffentlichungen von 255.570 auf 263.230 vor.

Das russische Silicon Valley

Die russische Führung hat die Wissenschaft schon vor einigen Jahren als Betätigungsfeld entdeckt. Seit 2005 schrieb sie eine Vielzahl von Manifesten und Programmen, schuf Mega-Stipendien und wählte 15 Institutionen als künftige Eliteuniversitäten aus. Als begleitende Maßnahmen entstanden auf Ukas von oben das „russische Silicon Valley“, das Technologiezentrum Skolkowo bei Moskau, und die Staatskorporation Rosnano. Der Erfolg blieb durchwachsen: Rosnano dient vor allem der Kommerzialisierung von Business-Projekten mit Nanotechnologie und findet seine interessierten Firmenpartner vor allem außerhalb von Russland. Die Skolkowo-Stiftung wiederum krankt an einer ineffizienten Verwaltung und an intransparenter Projektauswahl, die zuweilen den Einzelinteressen der teilnehmenden Experten zu folgen scheint.

Umso deutlicher wurde, dass eine grundlegende Reform unausweichlich ist. Kritiker beklagen seit Langem, dass die Akademie als unzeitgemäßes Kasten-System vor allem ihre Privilegien verteidige. Russlands Wissenschaftler ringen mit einer bürokratisierten Berufswelt, in der die Buchhalter Könige sind. Die Besorgung eines Reagenz kann zwei bis drei Monate dauern. Gerade die unflexiblen Arbeitsumstände verleiten russische Wissenschaftler dazu, das Land in Richtung USA oder Europa zu verlassen. Der Braindrain ist zwar kein Strom mehr wie noch in den Neunzigerjahren, aber er tröpfelt weiter.

Außerdem mangelt es an Geld. Akademie-Präsident Fortow konstatierte, dass Russland bis zu 3,5 Prozent seines Bruttosozialprodukts für die Wissenschaft aufwenden müsse, um zu den führenden Ländern der Welt aufzuschließen. Derzeit gebe es knapp ein Prozent aus. Viele Institutsdirektoren sind gezwungen, Geld zu verdienen, indem sie ihre Gebäude vermieten. Die Überweisungen aus der Akademie reichen oft nur für Gehälter, Strom, Wasser und Gas.

Die Hochschulen vermarkten Studienplätze. Etwa 4700 der 9000 Studenten der Staatlichen Fernstudium-Agraruniversität in Balaschicha bei Moskau zum Beispiel bezahlen zwischen 500 und 1200 Dollar pro Studienjahr. Für diese Einnahmequelle hat die Universität Lehrstühle für „Management“, „Staatsverwaltung“, „Handel“ und sogar „Informationstechnik“ geschaffen. 40 Prozent der Studenten haben mit dem universitären Fachgebiet, der Agrarwissenschaft, nichts zu tun. Andere, private Universitätsfilialen bestehen aus ein paar Büroräumen und Computern. Denn sie sind nur formal Ausbildungsstätten. In Wirklichkeit handeln sie mit Diplomen. Manche von ihnen finden sich jetzt auf der Streichliste des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft als „ineffektiv“ wieder.

Ein Harvard-Professor verdient im Monat mehr als ein Professor der Moskauer Staatsuniversität im Jahr

Obwohl manche Bestandteile der Reform vernünftig klingen, lehnen viele Wissenschaftler sie ab. Sie fürchten, dass sich Mitarbeiter des Ministeriums vor allem bereichern wollen – sei es für die behördliche oder für die persönliche Kasse. Immerhin geht es allein beim Akademie-Besitz um 337.000 Hektar Grundstücke und 15 Millionen Quadratmeter Immobilien. Gewerkschafter fürchten eine Entlassungswelle. Mit dem eingesparten Geld könnten, so plant manche Verwaltung, die Gehälter der verbleibenden Wissenschaftler erhöht werden. Bislang sind viele russische Wissenschaftler tatsächlich unterbezahlt: Ein Harvard-Professor verdient im Monat oft mehr als ein Professor der Moskauer Staatsuniversität im Jahr.

Der Ökonom Prof. Dr. Jewgenij Gontmacher beklagt, dass sich bei der Bewertung der Institute ungeeignete Kriterien durchsetzen könnten: „Das heidnische Idol der Zitierhäufigkeit und der Fetisch der Kommerzialisierung wissenschaftlicher Ergebnisse bedeuten de facto die Verdrängung der Grundlagenforschung“, urteilt Gontmacher. Die Zahl der Zitate in wissenschaftlichen Publikationen als Erfolgsnachweis könne eine „Salami-Taktik“ zur Folge haben, bei der ein Forschungsergebnis wie eine Wurst zur Veröffentlichung in mehrere Stücke aufgeteilt wird. Auch das Monitoring der Hochschulen ist umstritten, da es bisher statt der Qualität der Ausbildung vor allem die Organisation und die Finanzen begutachtet. Prof. Dr. Alexander Ausan, Dekan der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Moskauer Staatsuniversität, spricht sich grundsätzlich gegen die Schließung von Universitäten aus. „Eine schlechte Universität“, sagt er, „ist noch immer besser als eine gute Armee oder ein Gefängnis, die auch Anstalten der Sozialisierung sind. Universitäten vermitteln Verhaltensvorbilder und Kultur und prägen so die Mittelklasse.“

Nach einer ersten Demonstrationswelle im vergangenen Jahr hat sich die Mehrheit der Professoren, Dozenten und Studenten trotz aller Zweifel mit der Reform abgefunden. Ein kollektiver Protest liegt den meisten derzeit fern. Sie versuchen mittlerweile eher, sich anzupassen oder mit persönlichen Strategien ihren Platz im Wissenschaftssystem zu sichern. Allerdings wissen sie im derzeitigen Schwebezustand noch nicht, was genau auf sie zukommt. Ein einjähriges Moratorium, das alle Veränderungen bei Personal und Besitz der Akademie bis Januar 2015 unterbindet, verschiebt entscheidende Schritte in die Zukunft. Noch hat die Reform keinen großen Schaden anrichten können.

Johannes Voswinkel ist Journalist in Moskau.

Zahlen und Fakten

Zahlen und Fakten

Die russische Akademie der Wissenschaften wurde 1724 gegründet und ist heute die ranghöchste Forschungseinrichtung der Russischen Föderation. Gegliedert in Fachabteilungen, regionale Wissenschaftszentren sowie zahlreiche Wissenschafts- und Forschungsinstitutionen in ganz Russland soll die Akademie grundlegende Forschung im Bereich von Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften leisten und die soziale und geistige Entwicklung der russischen Gesellschaft vorantreiben. Dies schließt auch die Auswahl und Förderung von begabten Nachwuchsforschern ein.

Studie zu möglichen Folgen der Reform: http://tinyurl.com/krn2mpj

Zum Hochschulsystem zählen nach Angaben des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) circa 660 staatliche und circa 2600 private Hochschulen. Insgesamt studieren in Russland rund 9,3 Millionen Menschen (Stand: 2009). Deutschland steht an erster Stelle bei den russischen Studierenden, die es ins Ausland zieht. Im Jahr 2011 waren hierzulande 10 077 Studierende aus der russischen Föderation immatrikuliert.

Internet: www.daad.de

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