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Mit der Lizenz zum Lernen

Sie sind kostenlos und überall am PC verfügbar – frei zugängliche Lehr- und Lernmaterialien, sogenannte Open Educational Resources. Sie bieten Studierenden wie Dozenten viele Vorteile. Dennoch werden die elektronischen  Medien nicht massenhaft genutzt.

Der Schultrojaner hat alle aufgeweckt. 2011 war das. Die Kultusministerien hatten zuvor dem Drängen der Verlage nachgegeben, auf Schul-Rechnern ein Programm zu installieren, das nach illegalen – also urheberrechtswidrig erstellten – digitalen Kopien von Schulbüchern suchen sollte. Als das öffentlich wurde, war der Protest der Lehrer immens, bis die Politik vom Schultrojaner wieder Abstand nahm. Die Diskussion um kostenlose und frei zugängliche Lehr- und Lernmaterialien allerdings, also um Open Educational Resources (OER), die war nun eröffnet.

„Lehrer sind wahre Remix-Künstler“, meint Markus Schmidt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) in Tübingen: „Zur Unterrichtsvorbereitung ziehen sie Materialien aus dem Netz, bearbeiten sie, tauschen sie mit Kollegen aus. Die Diskussion um den Schultrojaner machte ihnen bewusst, dass urheberrechtliche Fragen in den Fokus der Aufmerksamkeit gerieten.“ Was für die Schulen gilt, trifft ebenso auf die Hochschulen zu. Auch hier sind OER mittlerweile ein Thema – wenngleich noch im Schatten der Massive Open Online Courses (Moocs).

Die Argumente dafür, Fachbücher, Videos, Podcasts und Vorlesungsskripte im Internet frei zur Verfügung zu stellen, sind vielfältig. Aus der Perspektive der Menschen in weniger entwickelten Ländern oder Gegenden zum Beispiel besticht der leichte Zugang zu Bildung. Genau deswegen hält die Unesco die OER für ein Mittel zur „Demokratisierung von Bildung“, für die Verbesserung von Bildungs- und Chancengerechtigkeit also, und fordert ihre Mitgliedsstaaten in der Pariser Erklärung von 2012 auf, die „Erstellung und Nutzung von OER zu fördern“. Jenseits solch idealistischer Motive sprechen handfeste Gründe für OER: So können Lehrende sich die besten beziehungsweise für ihre Zwecke am besten geeigneten Materialien zusammenstellen und optimal an die Bedürfnisse der Lernenden anpassen. Außerdem sparen die Nutzer sich die Kosten für die Anschaffung von Lehrbüchern sowie Lizenz- und Nutzungsgebühren. Für Studierende erweitert sich das Angebot an Wissen, mit dem sie lernen können: Der mp3-Mitschnitt einer Vorlesung erlaubt eine intensive Nachbereitung, das Skript eines anderen Professors erweitert den Horizont, das Video eines Experiments macht Versuchsanordnung und -ablauf besser nachvollziehbar.

Wer als Dozent OER bereitstellt, wird sichtbar für Kollegen und Studierende. Und er bekommt durch die Verwendung und Bearbeitung seiner Materialien so etwas wie ein kostenloses Gutachten – mit Anregungen, Lob, konstruktiver Kritik. Kurzum: OER können die Lehre bereichern, weil sie neue Lern- und Lehrformen ermöglichen.
Die Bundesregierung hat das Potenzial ebenfalls erkannt. Im Koalitionsvertrag spricht sie sich dafür aus, dass „Schulbücher und Lehrmaterial auch an Hochschulen frei zugänglich gemacht werden“. Wie sie das erreichen will und welches Budget womöglich eingeplant wird, steht jedoch in den Sternen.

Bislang mangelt es in Deutschland an finanzieller und ideller Unterstützung für OER, sowohl durch die öffentliche Hand als auch durch private Förderer. Das Engagement geht eher von einer Graswurzelbewegung aus: von einzelnen Personen, die an ihrer Hochschule ein paar Mitstreiter um sich geschart haben. Die untereinander gut vernetzt sind und sich regelmäßig auf Fachkonferenzen treffen und mancherorts die Rückendeckung der Hochschulleitung haben: wie an der Uni Tübingen, die gemeinsam mit dem benachbarten IWM im Projekt „Wissenschaftscampus: Bildung in den Informationswelten“ den Einfluss von digitalen Medien auf Wissens- und Bildungsprozesse untersucht. Wie an der TU Darmstadt, die eine Plattform mit eigenen und OER-Lernmaterialien anderer Hochschulen eingerichtet hat und dort auch zu Suchmaschinen verlinkt (www.openlearnware.de). Und wie an der FH Lübeck, die eine Software anbietet, mit der Autoren frei zugängliche Online-Lehrbücher entwickeln können (http://loop.oncampus.de).

Wer OER nutzen oder erstellen möchte, braucht ein Faible für digitale Technologien. Zwar gibt es durchaus einschlägige Quellen wie Wikiversity, Wikibooks, OER Commons oder die Open Course Ware des Massachusetts Institute of Technology (MIT) sowie Suchmaschinen, die zum Angebot von Hochschulen oder einzelnen Lehrenden führen. Auch die Plattform Open Education Europa bietet einen Überblick über die europäischen Angebote an freien Lernmitteln (www.openeducationeuropa.eu/de). Aber all das zu durchforsten, braucht Zeit. „Es gibt kein Google-OER, wo man nur ein Stichwort in die Suchzeile eingibt“, stellt Schmidt klar. Er empfiehlt, selbst einmal OER zu erstellen, „so versteht man am besten, wie das Konzept funktioniert“.

Der Aufwand ist keineswegs immer groß. So genügen an der TU Darmstadt ein paar Mausklicks, um den Video-Mitschnitt einer Vorlesung auf der Online-Plattform einzustellen. Weil das trotzdem kein Selbstläufer ist, geht die E-Learning-AG des Hochschulrechenzentrums vor jedem Semester das Vorlesungsverzeichnis durch. „Bietet sich eine Veranstaltung an, weil sie beispielsweise Grundlagenwissen vermittelt, gehen wir auf den Professor zu und beraten ihn bei der Umsetzung in Video, mp3-Datei oder Folien-Präsentation sowie in rechtlichen Fragen wie der Lizenzierung“, sagt Christian Hoppe, Sprecher der AG.
Für Fortgeschrittene hingegen ist die Autorensoftware Loop gedacht. Wer ein Online-Lehrbuch anlegen möchte, bekommt von der FH Lübeck eine URL zugewiesen sowie per Online-Modul eine Einführung in deren Technik und Möglichkeiten, etwa die Integration von Youtube-Videos oder anderen freien Inhalten in das Skript.

Eine Qualitätsgarantie gibt es für OER nicht – jeder Nutzer muss selbst prüfen, ob sie seinen Ansprüchen genügen. Nach Schmidts Meinung ist das aber nichts Neues: „Auch bei klassischen Materialien müssen Lehrende sich seit jeher fragen: Wie sind sie entstanden, nach welchen Richtlinien arbeiteten die Autoren, belegen sie ihre Thesen, machen sie ihre Ideen mit Praxisbeispielen nachvollziehbar?“

Die größte Hürde für eine massenhafte Verbreitung von OER in Deutschland sind indes wohl rechtliche Unsicherheiten. Manche Lehrende scheuen die freie Veröffentlichung von Materialien im Internet, zumal wenn sie Bilder oder Zitate aus den Werken anderer enthalten, weil sie nicht mit dem Urheberrecht in Konflikt geraten möchten. Andere haben Vorbehalte gegen eine Veröffentlichung, weil sie fürchten, dass Dritte daran verdienen könnten.

Genau deshalb hat die Organisation Creative Commons (CC) Lizenzen für freie Angebote entwickelt. Diese ermöglichen es Urhebern, ihre Werke unter bestimmten Bedingungen zur Nutzung freizugeben. Es gibt sechs CC-Varianten – wobei der Ausschluss der kommerziellen Nutzung am beliebtesten ist. Was als kommerziell gilt, ist aber nicht bis ins Detail geregelt. Schon eine Konferenz, bei der Sponsoren mit im Boot sind, müsste bei dieser Einschränkung sicherheitshalber auf OER verzichten.

Möglich ist auch, per Creative-Commons-Lizenz eine Bearbeitung der Materialien auszuschließen – was für viele OER-Befürworter aber der Idee von offenen Lernressourcen widerspricht. „Die Angst vor Verschlimmbesserungen ist ohnehin unbegründet“, meint Andreas Wittke, der die Loop-Software erfunden hat und betreut: „Eine Bearbeitung nutzt eher, weil Links und Inhalte aktualisiert werden.“

Bei „L3T“, einem Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien, waren von den Autoren Bearbeitungen und Ergänzungen ausdrücklich erwünscht. Der Prozess ist auf www.l3t.eu dokumentiert. Ein Buch wie L3T muss man wollen, gibt Herausgeber Dr. Martin Ebner (siehe Interview) zu. Denn verdient hat er daran nichts. Ihm ist es aber „mehr wert, dass die Community jetzt ein Buch geschaffen hat, mit dem sie arbeiten kann“: 300 Mal hat sich L3T als Printausgabe verkauft, 300 000 Interessenten haben sich die frei zugängliche Online-Version heruntergeladen.

Ein Einzelfall, nicht die Regel. Noch sehen die meisten Lehrenden die Übernahme fremder Lehrmaterialien als nicht standesgemäß an und setzen „lieber eigene Akzente“, wie Dr. Bertram Salzmann, Geschäftsführer des Stuttgarter UTB-Verlags, sagt. Zwar haben die Verlage auf das veränderte Mediennutzungsverhalten reagiert – allein bei UTB werden drei Viertel aller Materialien digital angeboten – aber „OER funktionieren als Geschäftsmodell noch nicht“. Dazu braucht es aus Sicht der Verlage neben einer „professionellen Koordination der Angebote“ eine unabhängige Finanzierung – beispielsweise durch die öffentliche Hand. Das hat Salzmann 2012 auch auf einer Anhörung im Bundesforschungsministerium klargestellt, bei der er im Auftrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels war.

Der Leibniz-Mitarbeiter Markus Schmidt könnte mit solch einem Modell leben. Eine Gefahr sähe er allerdings dann, wenn andere Unternehmen mit selbst erstellten Büchern in die Lücke stoßen und das Lehrmaterial zu Werbezwecken oder für den Transport von Inhalten, die für sie relevant sind, missbrauchen würden.

Was sind OER?

Was sind OER?

  • Unter Open Educational Resources (OER) versteht man Lehrmaterialien wie Bücher, Videos, Podcasts oder Vorlesungsskripte, die im Internet frei angeboten werden. In einem weiteren Sinne sind OER nicht nur jene Angebote, die explizit für die Lehre in Schule und Hochschule erstellt worden sind, sondern alle Materialien, die dafür verwendet werden können.
  • OER werden unter Lizenz veröffentlicht: Dem Autor sichert das die Anerkennung als Urheber. Zugleich erlaubt er damit die Nutzung und Verbreitung seines Werkes. Am bekanntesten sind die sechs unterschiedlichen Creative-Commons-Lizenzen (CC). So kann ein Autor beispielsweise die kommerzielle Nutzung oder die Bearbeitung seines Werkes ausschließen.
  • Nutzer müssen für die Verwendung von OER weder die Erlaubnis des Urhebers einholen noch Nutzungs- oder Lizenzgebühren zahlen.
  • Open Course Ware (OCW) sind eine Unterkategorie von OER – nämlich ausschließlich Kurse samt Materialien zur Kursplanung und Bewertungsinstrumenten. OER können Teil von E-Learning-Angeboten sein. Umgekehrt sind E-Learning-Kurse nicht zwangsläufig offen lizenziert.

Mehr Informationen liefert ein Reader der Unesco-Kommission: www.unesco.de/oer-faq.html

Dr. Martin Ebner

Über eine Kultur des Teilens und Tauschens

„Das steigert die Sichtbarkeit“

GRAZ Die österreichische TU Graz will mehr freie Inhalte in der Lehre und berät ihre Dozenten in rechtlichen und didaktischen Fragen. Als Leiter der Abteilung Vernetztes Lernen treibt der Informatiker Dr. habil. Martin Ebner die OER-Bemühungen voran.

duz: Herr Ebner, wird die TU Graz von Idealisten geführt, die sich kostenlose Bildung für alle wünschen – oder wollte da eine kleine Hochschule einfach ihr Profil schärfen?

Ebner: Nein, um ein Alleinstellungsmerkmal ging es überhaupt nicht. Ausgangspunkt war unser Engagement in diversen Gremien zu Neuen Medien. Immer wieder blieben und bleiben wir da am Urheberrecht hängen, das den Einsatz digitaler Lehr- und Lernmaterialien in Schule und Hochschule stark einschränkt. Ich wollte mich irgendwann nicht länger mit der Blockade beschäftigen, sondern lieber die Potenziale von OER ausloten. 2010 habe ich daher unserem Vize-Rektor für Lehre und Studien vorgeschlagen, jene digitalen Materialien, die bereits öffentlich zur Verfügung stehen, an zentraler Stelle zu bündeln und öffentlich zu machen – nämlich auf der Plattform opencontent.tugraz.at.

duz: Die Lehrenden an der TU Graz waren und sind also aufgeschlossen für OER?

Ebner: Es ist noch eine Minderheit. Und viele Lehrende, die schon länger OER anbieten, haben einen ganz pragmatischen Zugang zum Thema: Sie haben ihre Video-Mitschnitte oder digitalen Skripte ohnehin vorliegen und machen diese dann frei zugänglich, um Passwörter zu vermeiden. Die Abteilung vernetztes Lernen ist aber auch Anlaufstelle, wenn jemand Unterstützung braucht bei der Erstellung digitaler Materialien. Dann werfen wir immer die Frage auf, ob diese nicht generell frei zugänglich sein sollten.

duz: Und wann ist das sinnvoll?

Ebner: Bei Themen, die eine große Gruppe adressieren – bei Spezialwissen eher nicht. Bei Laborversuchen, die sich so besser verfolgen lassen. Bei besonderen Vorlesungen, zum Beispiel von Gast-Dozenten. Irgendeine x-beliebige Vorlesung ist oft nur für die Teilnehmer eines Seminars interessant, weil diese so die Inhalte zu Hause nachbereiten können. Grundsätzlich muss die Qualität stimmen: Mit einem wackeligen Video-Mitschnitt tut sich niemand einen Gefallen.

duz: Viele Lehrende haben Sorge, dass sie mit ihren Materialien gegen das Urheberrecht verstoßen. Was raten Sie?

Ebner: Sobald eine Quelle oder Bildrechte unbekannt sind, kommt eine Veröffentlichung als OER nicht infrage. Wer OER erstellt, muss selbst freie Materialien verwenden und darf nicht aus Büchern kopieren.

duz: Umgekehrt lehnen viele Lehrende OER ab, weil sie nicht möchten, dass andere aus ihrer Arbeit Profit schlagen. Lässt sich das mit den Creative-Commons-Lizenzen vermeiden?

Ebner: Theoretisch ja. Aber ich bin dagegen, mit dieser Lizenz die kommerzielle Nutzung auszuschließen. Lehrangebote für Erwachsene, beispielweise im Master-Bereich, müssen ja häufig bezahlt werden. Da gilt ein Einsatz von OER dann schon als kommerzielle Nutzung! Außerdem lässt sich mit Lehrmaterialien ohnehin nicht das große Geld verdienen. Wenn OER anderswo verwendet werden, nutzt das eher der Reputation eines Professors oder der Hochschule.

duz: Ist der Nutzen für Lehrende denn rein ideell?

Ebner: Nein. Noch herrscht das Denken vor: „Ich gebe nur, aber bekomme nichts.“ Doch wer eine Weile Teil der Bewegung ist, weiß, dass es anders ist. Unser Lehrbuch L3T, an dem 116 Autoren und 80 Gutachter mitgeschrieben haben, ist das beste Beispiel. Wichtig ist, dass wir in eine Kultur des Teilens und Tauschens hineinwachsen, dies als Wert erkennen.

duz: Haben OER überhaupt das Potenzial, die Lehre grundlegend zu verändern?

Ebner: Es geht nicht nur um diejenigen, die gerade an einer Uni lernen. Studieninteressierte verschaffen sich über OER einen Eindruck von der Hochschule, sie sind eine Entscheidungshilfe. So ist die TU Graz über die iTunes-University weiter bekannt geworden, das wissen wir von unseren ausländischen Studierenden. OER steigert also die Sichtbarkeit der Hochschule. Das andere ist, dass OER lebenslange kostenlose Bildung ermöglichen. Wenn jemand heute Informatik studiert, muss er sein Wissen ständig aktualisieren. Er braucht im Beruf die neuesten Inhalte, aber keine Zeugnisse oder Abschlüsse. Aus genau diesem Grund bieten wir auch unsere Moocs als OER an.

duz: Sie appellieren also an den Bildungsauftrag der öffentlichen Hochschulen?

Ebner: Ja. OER sind kein Selbstzweck, sie sollen uns beim Lehren und Lernen unterstützen. Als Ergänzung zur Präsenzlehre, wenn es sinnvoll und notwendig ist. Für mich ist das keine Frage von Entweder-oder.
 
Das Interview führte Eva Keller.

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