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Kann denn Muße Sünde sein?

Forscher und Wissenschaftsmanager sind rund um die Uhr im Dienst, kennen keine Freizeit und kein Hobby. Die Erkenntnis ist ihr Lebensglück. So sieht das Bild aus, das die Wissenschaftsgemeinde gern nach außen von sich zeichnet. Wer am meisten schuftet, ist der Größte? Falsch. Ein hedonistischer Weckruf.

Heureka! Schrie ein nackt durch die Stadt laufender Archimedes vor über 2000 Jahren. Er hatte gerade eine randvolle Badewanne zum Überlaufen gebracht und erkannt, dass die Menge des Wassers auf dem Boden des Badesaals dem eingetauchten Körpervolumen entsprach. Die Anekdote ist weltberühmt und das daraus entwickelte Archimedische Prinzip bis heute Grundlage jeder Schiffskonstruktion. Interessanterweise kam Archimedes dieser Geistesblitz nicht in seinem Studierzimmer, sondern bei der Körperpflege und Entspannung. Und damit stand er nicht allein da: Einem im Garten sitzenden Newton soll ein fallender Apfel Anstoß zur Idee der Gravitation gewesen sein. Albert Einstein sah man selten ohne seinen Geigenkasten, dessen Inhalt er immer hervorholte, wenn die Gedanken stockten – egal ob bei Nacht oder Tag.

Das gleißende Licht der Erkenntnis blendet auch die Wissenschaftler von heute selten am Schreibtisch. Einer zugegebenermaßen nicht ganz repräsentativen Stichprobe zufolge (befragt wurden aktuelle Mitglieder und Alumni der Jungen Akademie der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Leopoldina), sind das freie Feld, der Wald oder die Küste die Orte, wo Geistesblitze signifikant öfter einschlagen als im Büro. Knapp die Hälfte der an der Umfrage teilnehmenden 31 Forscher gaben an, ihre besten wissenschaftlichen Einfälle nicht vor dem Computer, sondern draußen in der Natur, bei einem Spaziergang, beim Fahrradfahren oder Joggen zu haben. Ungefähr ein Viertel lässt die Funken im Gespräch sprühen und ein weiteres Viertel benötigt den Zustand des Alleinseins, sei es im ICE bei Höchstgeschwindigkeit oder beim Zähneputzen.

Ideentod im Büro

Ernüchternde 2,5 Prozent der Befragten erklärten, auch einmal im Büro die besten wissenschaftlichen Einfälle gehabt zu haben. Zu erwähnen ist allerdings auch folgende, von dem in Kanada lehrenden deutschen Biologen Dr. Boris Worms überlieferte Anekdote: „Ein Kollege erzählte mir, dass er nur unter der Dusche morgens ungestört denken kann und dass er sogar ein wasserfestes Schreibheft dort hat, in dem er gute Einfälle gleich festhalten kann.“ Archimedes lässt grüßen.
Heute leben wir in einer Zeit komplexen, sich täglich vermehrenden Wissens und „eines hohen gesellschaftlichen Anspruchs an die Wissenschaft“, zitierte das biowissenschaftliche Fachmagazin Biospektrum vor rund einem Jahr die Präsidentin der Universität Göttingen, Prof. Dr. Ulrike Beisiegel. Stimmt, nur sind wissenschaftliche Erkenntnisse nicht ohne kritische Reflexion und Diskussion zu haben.

Hochrisikogruppe: Naturwissenschaftler

Doch genau dafür bleibt immer weniger Zeit. Die Auswirkungen könnten verheerend sein, wie die Befragung von Wissenschaftlern der Jungen Akademie vermuten lässt: Auf die Frage „Persönlich habe ich für die kritische Reflexion meines Wissenschaftsgebietes: a) genug Zeit, b) nicht genug Zeit, c) nehme mir die Zeit“ antworteten etwa 50 Prozent mit „b)“! Die restlichen 50 Prozent (ich inklusive) haben oder nehmen sich nicht genug Zeit, ihrem eigentlichen und unser aller wissenschaftlichen Anspruch nach Reflexion Genüge zu tun! Dieses Ungleichgewicht ist in den Naturwissenschaften besonders deutlich ausgeprägt. Gerade einmal 30 Prozent der befragten Wissenschaftler dieser Disziplinen sagen von sich, genug Zeit für Reflexion zu haben. In den Geistes- und Sozialwissenschaften sind es immerhin 60 Prozent. Natürlich könnten diese Ergebnisse reiner Zufall sein, mein Bauchgefühl und meine Erfahrung sagen mir aber das Gegenteil.

Das wäre dann allerdings ein sehr erschreckendes Bild des täglichen Wissenschaftsalltags: Der Mangel an Zeit für Muße, Konzentration und Reflexion wäre dann nicht nur in der Mitte der Wissenschaftsgesellschaft angekommen, er würde sie in vielen Fällen sogar dominieren! Wie gehen wir damit um? Zweifelsohne würde ich mehr Spaziergänge oder Radtouren empfehlen (siehe oben), aber jeder kann und sollte (wenn auch er sich in den Umfragen wiederfindet) für sich einen Weg finden, zu „entschleunigen“, wie es so schön heißt. Das bedeutet ja nicht, dass man ein schlechterer Wissenschaftler ist. Im Gegenteil: Der scheidende Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Prof. Dr. Matthias Kleiner, plädierte vor gut einem Jahr für eine
„Entschleunigung der Wissenschaft“. Das ist allerdings viel leichter gesagt, als in der Hektik des Hochschulalltags getan.

Meine persönlichen Erfahrungen haben mich zwar gelehrt, dass ein kurzer Mittagsschlaf auf dem Bürostuhl meine Konzentration und Leistungsfähigkeit für den Nachmittag deutlich befördert. Aber wie komisch kam ich mir zuerst vor, klammheimlich die Tür meines Büros zu schließen, das Telefon umzustellen und meinen Laptop zuzuklappen – in der Arbeitszeit! Es breitete sich eine Ruhe im Büro aus, die mich ganz nervös machte. Doch diese Zeiten sind lange her, meine Kollegin lächelt mich immer freundlich wissend an, wenn ich gegen 13 Uhr die Tür schließe – das viertelstündige Nickerchen ist zu einem Ritual geworden. Meine Studenten sind inzwischen fast neidisch auf die Fähigkeit, zu dieser Zeit in fast jeder Lage kurz einschlafen zu können. Ich erinnere mich noch gut an einen verregneten Tag norwegischer Feldarbeit auf den Bergflanken gegenüber dem Hardangerjökulen Gletschermassiv. Es gab nirgends eine halbwegs flache und trockene Stelle zum Hinlegen. Da musste ein Stein her, an den gelehnt stehend wenigstens fünf Minuten Schlaf möglich waren.

Das Ende: die Produktion von Forschermaschinen in Serie

Viele Spielarten der Entspannung und Muße im Dienste der Wissenschaft sind denkbar: Ein guter Kollege setzt sich jeden Abend nach der Arbeit für mindestens eine Stunde ans Klavier, andere wühlen mit ihren Kindern mehr oder weniger meditativ in Legosteinhaufen und Sandkästen, ich selber jage gerne mit unserem Segelboot auf die Ostsee hinaus, nur um irgendwann wieder umzukehren und zurückzusegeln. Diese Zeit dient natürlich einerseits der Entspannung, ich würde aber andererseits die These vertreten, dass das Gehirn keine 40-Stunden-Woche kennt. Es bearbeitet die bohrenden Fragen weiter. Wie ein im Hintergrund ablaufendes Programm auf dem Computer, welches, je mehr Kapazität zur Verfügung steht, umso schneller das gewünschte Ergebnis liefert. Die Informationsflut (wer checkt nicht um 21 Uhr noch seine E-Mails?) verstopft Erkenntniskanäle. Wir müssen, so scheint es, aktiv die Momente und Stunden der Muße suchen, unseren Lebens- und Arbeitsalltag auch dafür strukturieren. Diese Herausforderung ist nicht leicht.

Besonders den wissenschaftlichen Nachwuchs trifft der Mangel an Zeit für kritische Reflexion. Ich persönlich (und wohl auch viele andere) will keine Wissenschaftsmaschinen, sondern wissenschaftlich denkende Menschen ausbilden. Doch dazu gehört Zeit. Nehmen wir uns das zu Herzen (als Betreuer und als Wissenschaftler), wenn wir Studenten ausbilden, Lebensläufe, Publikations- und Projektlisten gegeneinander abwägen oder selbst von Termin zu Termin hetzen. Ein überlegter Halt ist vielleicht manchmal den zwei schnellen Schritten überlegen. Ich bin mir sicher, dass es weder uns, noch der Wissenschaft insgesamt schaden wird – im Gegenteil.

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